Am 05.08.23 folgten Jennifer Ploog und ich dem weißen Kaninchen durch den Kaninchenbau ins Wunderland. Beim Vogelball erwarteten uns magische Stunden mit größtenteils queeren Musiker*innen, Kunstinstallationen und Tanzflächen voller bunter glücklicher Menschen. Komm mit auf unsere Reise durch das Wunderland.
Rave, Konzerte und Performances
Das Team des Vogelballs hat in den letzten Wochen das MS Artville Gelände in Hamburg/Wilhelmsburg in einen wirklich magischen Ort verwandelt. An neun Orten und Bühnen gab es eine bunte Mischung aus Rave, Performances und Konzerte zu erleben. Das Ganze ist in einer Fülle an Kunstinstallationen eingebettet, z.B. dem alle Sinne ansprechende Walk-Through-Happening „Motel“. Wir wussten anfangs überhaupt nicht, wohin wir zuerst schauen sollten, wohin zuerst gehen, wem zuerst lauschen? Also ließen wir uns einfach treiben – wie einst Alice, als sie das erste Mal im Wunderland war.
Die bunte, experimentelle Atmosphäre wurde großgeschrieben. So bot man auch Newcomer*innen Bühnen, um deren Musik und Kunst zu präsentieren. Es gab vom Tentakel, einem ehemaligen Zirkuszelt, über das Nest, eine riesige Open Air Rave Area mit durchgehenden DJ*ane Sets, auch kleinere Bühnen wie z.B. die YWCC, die in zwei Überseecontainern Platz fand. Jeder Bereich hat seine ganz eigene Stimmung und so erhält man irre viel Abwechslung für den Eintrittspreis von 60 € an der Abendkasse. Als Frühbucher*in oder in der Gruppe mit Schwarmticket war der Besuch sogar noch günstiger.
Ein Plan muss her!
Jenny und ich checkten erstmal die verschiedenen Bühnen und den Timetable, damit wir uns einen kleinen Plan zurechtlegen konnten. Immerhin wollten wir möglichst viel mitnehmen. Die Wege sind kurz und trotzdem stört kein Konzert das andere. Chapeau, eine großartige Leistung der Veranstalter*innen, das muss man erstmal hinbekommen.
Aber halt, was war das? Die Foodmeile! Ne, jetzt war erstmal verpflegen angesagt: vegane Currywurst mit Pommes und Holzofenbrot zu fairen Preisen.
Frisch gestärkt ging es anschließend erstmal zum Sport. Das Team Rave Aerobic brachte alle zum Mitmachen – auch uns. Aber nicht zu viel, wir durften uns ja nicht direkt zum Start verausgaben. Wir wollten ja den Abend noch lang erleben.
Stetig füllte sich das Festivalgelände, da immer mehr fantasievoll gekleidete und geschminkte Menschen den Weg vom CSD in der Hamburger Innenstadt nach Wilhelmsburg fanden. Schließlich handelt es sich beim Vogelball um einen Maskenball. Nun begannen auch die ersten Konzerte und wir schauten bei Lisa Uebel vorbei, die uns mit 80s Beats und Synthsounds zum Tanzen animierte.
Feministischer Rap im Zirkuszelt
Danach zog uns das Tentakel, das alte Zirkuszelt, magisch an, in dem wir immer auch später wieder landeten. Die Bühne mit Runway ließ die Künstler*innen Mitten unter den Fans auftreten. Noch himmlischer wurde die Atmosphäre durch den Sternenhimmel am Zeltdach und die schwarzen Diskokugeln. Wofür der Runway auch noch genutzt werden sollte, würden wir später erfahren. Dort trat Bushi.da auf und präsentierte ihren feministischen Rap, der einen direkt in die (sorry für das Wort, aber das muss hier sein!) Fresse trifft. Hart, vulgär, gegen das Patriarchat. Nicht Everybody’s Choice, aber das ist auch nicht ihr Anspruch. Kunst muss nicht jeder*r Person gefallen, sie sollte emotional berühren und das hat sie offensichtlich eine ganze Menge von Fans. Ich werde Bush.ida sicher im Auge behalten, denn ab und an brauche ich einen musikalischen Schlag ins Gesicht – mit einem feministischen Barhocker.
Kurz tanzen, dann springen
Jetzt brauchten wir etwas Abwechslung und flogen zurück ins Nest. Hier lud Fafi Abdel Nour mit einem DJs Set aus Amsterdam zum Raven und Tanzen ein. Lange konnten wir nicht tanzen, was für unsere armen alten Knochen vielleicht auch nicht ganz verkehrt war. Jetzt begann die Hardcore-Zeit, denn innerhalb von 40 Minuten standen drei Konzerte von Künstler*innen auf drei unterschiedlichen Bühnen an, die wir auf keinen Fall verpassen wollten: Futurebae, Migati und Finna.
Also ab zurück ins Tentakel-Zirkuszelt. Nach anfänglichen technischen Schwierigkeiten aufgrund eines etwas größeren Stromausfalls, schwebte Futurebae auf die Bühne. Ihr Traum von einer transparenten schwarzen Robe mit einer Schleppe hätte jede Princess neidisch gemacht. Elektronische 80s-Einflüsse, sphärische Trap-Sounds und RnB, gepaart mit extrem viel Attitude und Selbstbewusstsein. Die große Fanbase zeigte sich daran, dass hier verdammt viele echt textsicher waren. Du hast Futurbae noch nicht auf`m Zettel? Dann höre Dir “trOstPflastEr” an.
Weiter geht`s zur kleineren YWCC Bühne in den beiden Überseecontainern zu meinem neonfarbenen Geheimtipp Migati. An ihm habe ich einen kleinen Narren gefressen. Bei den Konzerten ist er einer der wenigen männlichen Künstler und er kommt aus Wilhelmsburg. Support your Local Hero! Seine Musik lässt sich am besten mit “Neue Deutsche Welle geküsst von Electroclash” beschreiben. Die Performance strotzt vor Körpereinsatz und die Texte zeugen von viel Humor, aber auch tiefen Gedankenwelten. Nach dem Konzert verriet er uns in einem kleinen Interview mehr über seine Musik. Das Gespräch folgt in einem zweiten Artikel, als Hörbprobe von Migati empfehle ich dir “Cornern”.
Zartcore mit verdammt viel Herz
Jenny rennt schon mal vor ins Butterland, wo Finna die Bühne als Nächste betritt. Ich bleibe noch ein wenig bei Migati. Als ich etwas später wieder zu Jenny stoße, ist Finna, die das erste Mal mit Band auftritt, immer noch beim Soundcheck. Ungewöhnlich, aber das hängt wohl auch mit dem Stromausfall zusammen, der offensichtlich zu größeren Problemen geführt hat. Unglaublich sympatisch überbrückt die Zartcore Rapperin die Zeit, um kurz darauf mit „D.I.Y.“ ihren Auftritt mega kraftvoll zu beginnen. Das Publikum ist sofort bei 150%. Finna ist unglaublich gerührt, dass so viele Menschen zu ihrem Auftritt gekommen sind. Das wundert sie? Ja, denn wer sie auf den sozialen Medien verfolgt, der lernt sie ganz privat und ihren Struggle mit Mental Health kennen, der sie so nahbar und echt macht. Bei “Overscheiß”, einem Song gegen Normen und Body Shaming, fordert sie das Publikum auf, der Modeindustrie, der Werbung und allen, die ein Problem mit der Vielfalt der Körperformen haben, den Mittelfinger zu zeigen. Die Menge lässt sich nicht lange bitten.
Als Überraschung holt Finna Saskia Lavaux auf die Bühne. Gemeinsam mit der Sängerin der Punkband Schrottgrenze performen die beiden mit ganz viel Körpereinsatz den gemeinsamen Song “Slutpride”. Ein Stück, das unmissverständlich klar macht, dass es keinen etwas angeht, wen, wie und wie oft man liebt. Was für eine Power auf der Bühne! Nicht nur ich bin textsicher und singe lauthals mit. Das war nicht die einzige Überraschung – es folgt ein weiteres Feature mit Tigrrez Punch und dieses Mal sogar mit einer Premiere. Der Song 1000% kommt erst Ende des Monats raus. Super tanzbar und mit deutlich spürbaren elektronischen Einflüssen, hat er live schon mal einen sehr guten Eindruck hinterlassen. Ich bin gespannt auf die Studioversion. Wow, das war heftig im besten Sinne. Jenny und ich mussten uns erstmal an einer der vielen Trinkwasserstationen mit Flüssigkeit versorgen.
Das ist echte Awareness
Bei diesem Festival wurde wirklich an alles gedacht. Es gab super viele Möglichkeiten, sich mit bezahlbarem und leckerem Essen sowie Getränken zu versorgen. Das Trinkwasser war dankbarerweise an vielen Orten auf dem Gelände gratis. Es gab jede Menge Toiletten und zwar geteilt in “All Genders” und “FLINTA+”, was auf queeren Veranstaltungen immer häufiger zu finden ist. Der Vogelball versteht sich übrigens als Safer Space, was auch die großen und wichtigen Awareness-Richtlinien und das immer gegenwärtige Awareness Team zeigen. Dass das Konzept gelebt und akzeptiert wird, spürt man auch bei den Besuchern. Jede*r kann sein, wie man möchte. Es gibt keine Gendernormen, kein Body Shaming, keine Anmachen, es sei denn man möchte. Und genau das strahlen auch die Acts aus. Konsens, Empowerment und “Punch the Patriarchy“ sind allgegenwärtig.
Eine große Überraschung zum Schluß
Nach all diesen Impressionen und wunderbaren Gigs wurde es Zeit, das Wunderland wieder zu verlassen. Rauchschwaden der Raupe auf dem Pilz zogen über das Gelände, bunte Laserstrahler verschönerten den Himmel mit Nordlichtern und haben wir da etwa kurz das Lachen der Grinsekatze in den Bäumen gesehen? Auf dem Weg Richtung Ausgang bemerkten wir ganz schön viel Action im Zirkuszelt. Was ist da denn los?
Jenny und ich schauten uns an. Verdammt, dann sollen wir halt morgen schmerzende Füße haben und das hat sich gelohnt! Im Tentakel fand nämlich der erste richtig große Ball Hamburgs statt. Ball? Ja, ein Voguing Ball. Diese Tradition aus den New Yorker Ballrooms der 80er, 90er Jahre erlebt ein riesiges Revival und schwappt endlich auch zu uns rüber. Es gibt verschiedene Kategorien, zu denen auf dem Runway posiert, gelaufen und gevoguet wird. Wie geil! Ich, als großer Fan der Serie Pose und des Films Paris is burning, bin absolut hingerissen, Jenny nicht minder. Was für eine Energie, was für eine Stimmung. Zum Glück haben wir das noch mitgenommen. Tanzend bewegen wir uns dem Ausgang und der Realität entgegen, bevor der angesagte Regen kommt.
Was für ein Abend. Einfach Danke!
Das mit so vielen Menschen und auf so einem großen Gelände zu schaffen, ist eine große Kunst und dafür kann man die Organisator*innen nur loben. Jenny war vor vielen Jahren schon mal auf einem Vogelball, ich noch nie und ich ärgere mich ein klitzekleines bisschen, dass ich dieses jährliche Event, traditionell nach dem CSD in Hamburg, erst jetzt für mich gefunden habe. Nein! Ich bin dankbar, dass ich das Festival endlich entdeckt habe. Das war sicher nicht der letzte Besuch. Bereits jetzt hab ich mir den 03.08.2024 im Kalender angestrichen, denn da steigt der CSD in Hamburg. Wahrscheinlich wird der Vogelball wieder direkt danach stattfinden. Ich überlege jetzt schon, wie ich mich in 2024 kleiden und welche Acts wohl auftreten werden. Danke an die Veranstalter*innen des Vogelballs für dieses einmalige Event, den vielen Künstler*innen für die Leidenschaft, den Gästen für die gelebte Akzeptanz, MUSICSPOTS weil ich dabei sein durfte und Jenny für die außerordentlich tolle fotografische und moralische Begleitung.
Fliegt mit unsere Impressionen nochmals zurück in das Wunderland Vogelball:
Fotocredits: Jennifer Ploog und Andreas Seibert-Wussow (mobil)
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