Silence in Music
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Echoes of Silence: Schwerhörigkeit und das bunte Konzert in meinem Kopf

Musik anders erleben – ein Einblick in meine Hörwelt

Musik – für viele ein Erlebnis, das tief in die Seele geht. Für mich ist es das auch, aber mein Zugang dazu ist etwas anders. Denn während die meisten Menschen Musik in all ihren Facetten hören, nehme ich sie auf meine eigene Weise wahr. Was viele nicht wissen: Ich bin schwerhörig. Nicht von Geburt an, sondern vermutlich durch falsche Medikamente, die ich im Alter von drei Jahren erhielt. Es wurde im Kindergarten bemerkt, als ich oft nicht reagierte, wenn ich gerufen wurde, und beim Vorlesen von Geschichten immer ganz vorne saß. Seitdem hat sich mein Hörvermögen nicht verschlechtert, und es ist für mich zu einem Teil meines Lebens geworden.

Was höre ich eigentlich?

Meine Hörwelt ist geprägt von tiefen Tönen – Bässe nehme ich zu 100% wahr, so wie die meisten Menschen. Doch je höher die Töne werden, desto schwieriger wird es für mich. Das letzte Drittel des Frequenzbereichs höre ich nur dann, wenn die Töne laut genug sind. Erst ab einer gewissen Lautstärke sind sie plötzlich präsent – wie ein unerwarteter Gast, der plötzlich im Raum steht.

„Mach die Musik leiser!“ – Ein Satz, der mich begleitet

„Mach die Musik leiser!“ – diesen Satz habe ich mein ganzes Leben lang gehört. Um die Musik in ihrer ganzen Pracht wahrzunehmen, muss sie für mich laut sein – oft zu laut für andere. Daher habe ich mich meist angepasst, außer wenn ich allein im Auto bin, Zuhause oder Kopfhörer trage. Als Menschenfreund will ich natürlich niemandem zur Last fallen. Besonders mag ich Musik mit kräftigen Bässen und tiefen Stimmen – und das als queere Person. Sorry, Diven, euch mag ich nur, wenn ihr richtig laut seid. Dann aber natürlich extrem.

Meine Superkraft – Musik erkennen inmitten von Lärm

Eine besondere Fähigkeit, die ich entwickelt habe, ist das Erkennen von Musik in unruhigen Umgebungen, zum Beispiel beim Einkaufen. Oft nehme ich allein durch Bass und Rhythmus Lieder wahr, die andere gar nicht bemerken. Mein Mann wundert sich dann oft und sagt: „Hey, ich dachte, du bist schwerhörig?“ Genau! Tiefe und laute Stimmen, wie die meines Mannes, höre ich übrigens sehr gut. Flüstern hingegen ist für mich unmöglich. Schon in der Schule war das ein Problem, vorsagen ging nicht. Leider. Und flüstern kann ich auch nicht, da ich die Lautstärke schlecht einschätzen kann – ein häufiges Problem bei schwerhörigen Menschen. Entweder sprechen sie sehr laut oder, wie ich, zu leise, weil sie gelernt haben, dass sie tendenziell zu laut reden. Nur wenn ich es vergesse, wird es plötzlich lauter. Hahaha.

Verborgene Klänge – Wenn hohe Töne verschwinden

Hohe Töne sind nicht nur bei Stimmen problematisch, sondern auch bei Instrumenten wie Snares und Drums. Ganze Instrumentengruppen sind für mich oft einfach nicht vorhanden. Bei Konzerten war ich oft erstaunt, woher bestimmte Parts plötzlich kamen, und habe später beim Lauthören festgestellt, dass diese auch auf dem Album sind.

Aber nicht nur die Musik selbst, sondern auch der Text wird durch meine Hörweise beeinflusst. Hohe Buchstaben wie S, Z, Ch oder angestoßene Buchstaben wie T, D, P, K gehen oft verloren, wenn man leise spricht oder die Musik zu leise ist.

Was bedeutet das für mein Verstehen?

Es bedeutet, dass ich Texte oft falsch verstehe oder sie für mich keinen Sinn ergeben. Mein Gehirn hat jedoch gelernt, blitzschnell aus den Bruchstücken etwas Sinnvolles zu basteln. Was für mein Gehirn sinnvoll erscheint, ist leider oft nicht das, was der Texter oder die Texterin gemeint hat. Jahrelang habe ich bei „We Fade to Grey“ „Respect the Grave“ gesungen – und tue es manchmal noch. Diese ständige Analyse und Vervollständigung ist anstrengend und erfordert viel Energie. Ein Arzt erklärte mir einmal, dass mein Gehirn durch diese ständige Anstrengung bis zu sechsmal mehr arbeitet als ein normales Gehirn. Deshalb brauche ich besonders viel Schlaf, um meine Batterien wieder aufzuladen.

Vielleicht sind mir deshalb Texte oft nicht so wichtig wie das Gefühl, das Musik vermittelt. Vielleicht fühle ich Musik deshalb intensiver – oder eben anders.

Aber es gibt doch Hilfsmittel

Richtig, Hörgeräte sind eine wunderbare Erfindung und die Technik hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm verbessert. Aber trotzdem mag ich sie nicht. Denn offensichtlich müssen gute Hörgeräte sehr teuer sein, damit sich nicht alles blechern anhört. Und stell dir vor, alle Nebengeräusche sind plötzlich doppelt so laut – das ist äußerst unangenehm. Moderne Geräte können Umgebungsgeräusche zwar bis zu einem gewissen Grad erkennen und filtern, aber das funktioniert nicht immer zuverlässig. Oft kann ich dem Geschehen dann noch weniger folgen als ohne Geräte, und alles ist mir einfach zu laut.

Hinzu kommt, dass Hörgeräte auf das Verstehen von Gesprächen ausgelegt sind – und da nutze ich sie auch gerne. Im Büro ohne Hörgeräte? Undenkbar. Aber Musikhören mit Hörgeräten ist schrecklich. Die Musik klingt nicht mehr so, wie ich sie kenne, und die Geräte können nicht zwischen Nebengeräusch und Instrument unterscheiden. High-End-Geräte haben zwar einen Musik-Modus, aber die Zuzahlung liegt schnell bei mehreren tausend Euro pro Gerät – und ich brauche zwei. Die Krankenkassen beteiligen sich leider nur alle sechs Jahre mit einem bescheidenen Betrag. Es ist ähnlich wie bei Brillen: Man kann ein Kassengestell haben, aber wenn es stilvoll aussehen oder die Gläser eine doppelte Entspiegelung haben sollen, muss man draufzahlen.

Es gibt eine neue Methode, bei der Implantate ins Mittelohr eingesetzt werden. Dabei wird ein Kabel durch den Schädelknochen geführt und ein Magnet zwischen Schädel und Kopfhaut platziert, auf den außen Prozessoren mit Mikrofonen gesetzt werden. Damit soll fast normales Hören wieder möglich sein. Was auch immer das genau bedeutet – ich kenne es ja nicht. Trotzdem schaue ich mir diese Option gerade intensiv an.

Ein Blick in meine musikalische Hörwelt

Ich habe dich ein wenig in meine musikalische Hörwelt mitgenommen und hoffe, du hast einen Eindruck davon bekommen, wie unterschiedlich Hören sein kann. Es gibt viele Arten von Schwerhörigkeit, bis hin zu Menschen, die gar nichts mehr hören und Musik durch Vibrationen spüren. Ihr kennt das Gefühl, wenn laute Bässe eure Brust zum Schwingen bringen – unser eigener Resonanzkörper. Immer mehr Veranstaltungen bieten Gebärdendolmetscher*innen an, die nicht nur die Texte gebärden, sondern auch die Emotionen eines Songs beeindruckend zum Ausdruck bringen. Denn auch die Stimmung eines Songs – ob herzlich, lustig, kämpferisch oder wütend – muss vermittelt werden.

Danke, dass ich dich ein Stück weit in meine Welt mitnehmen durfte. Wie fühlst du Musik?

In diesem Video wurden die Bässe verstärkt und die Höhen gesenkt. So kannst Du Dir in etwa vorstellen, wie ich Musik höre. Das stimmt nicht zu 100%, aber geht in meine Richtung.

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Fotocredit: Andreas Seibert-Wussow mit midjourney

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