Manchmal fällt mir ein Buch in die Hände, das nicht nur erzählt, sondern klingt. „Lebensträume – Ärztin einer neuen Zeit“ von Svea Lenz ist genau so ein Buch. Es verbindet eine starke weibliche Hauptfigur, gesellschaftlichen Wandel und einen Soundtrack, der mich direkt mitgerissen hat.
Im Mittelpunkt steht Vicky, eine junge Frau im Berlin und Frankfurt der 1960er-Jahre. Sie will Ärztin werden – ein Plan, der für eine Frau zu dieser Zeit alles andere als selbstverständlich war. Vickys Geschichte ist mutig, berührend und vor allem eins: voller Haltung. Sie geht ihren Weg – gegen Widerstände, Erwartungen, politische und patriarchale Grenzen.
Und dabei begleitet sie immer wieder Musik. Nicht als bloßer Hintergrund, sondern als aktiver Teil der Erzählung. Der Roman pulsiert im Takt von Rock’n’Roll, Twist, Beatmusik, Soul, Schlagern und Chansons. Lieder von Elvis Presley, Chubby Checker, James Brown, Hildegard Knef oder Joan Baez tauchen nicht nur in Gesprächen oder Szenen auf – sie prägen die Kapitel, die Stimmungen, die Entscheidungen.

Ich wollte wissen, wie bewusst diese musikalische Dichte entstanden ist und durfte mit der Autorin Svea Lenz sprechen.
Dein Roman pulsiert förmlich im Rhythmus der 60er-Jahre. Welche Songs oder Künstlerinnen waren für dich persönlich beim Schreiben besonders wichtig?
Svea Lenz: Allen voran Joan Baez, für mich DIE Stimme der Sechzigerjahre. Natürlich die Beatles, die die Jugend- und Popkultur entscheidend prägten. „Let’s Twist Again“ von Chubby Checker hat für mich im Roman einen besonderen Stellenwert, weil dieser Song den Zeitgeist der frühen 1960er geradezu körperlich spürbar macht. Mit der ausgelassenen Sorglosigkeit eines echten Sommerhits – genau in dem Sommer, in dem für die Deutschen die harte Realität des Kalten Krieges zuschlug, in Gestalt der Berliner Mauer.
Auf meiner persönlichen Playlist fanden sich allerdings auch Titel deutlich jüngeren Datums, wie etwa „Dickes B“ von Seeed oder Kaiserbases „Berlin, du bist so wunderbar“ für meine Berlin-Mood. Und weil es sich um eine deutsch-deutsche Geschichte handelt, waren einige Ost-Klassiker dabei, an die ich mich aus den 1970ern und 1980ern noch erinnere, z. B. Citys „Am Fenster“, „Als ich fortging“ von Karussell oder „Mont Klamott“ von Silly. Musik transzendiert eben Zeit und Raum.
Vicky und ihre Freundinnen erleben eine Zeit des Wandels – zwischen gesellschaftlichem Druck und Freiheitsdrang. Wie hast du diesen Zwiespalt musikalisch im Buch umgesetzt?
Svea Lenz: Gerade zu Beginn ist der Roman von deutschen Schlagern untermalt – mal schwungvoll und ein bisschen albern, mal schmalzig. In jedem Fall ziemlich brav und nur soweit kess, dass die ältere Generation wohlwollend noch ein Auge zudrücken konnte. Im weiteren Verlauf der Handlung häufen sich Rock ’n‘ Roll, Blues, Beat und Folk, Pop und Rock – parallel zur Entwicklung der Musik, aber auch zu den gesellschaftlichen Umwälzungen des Jahrzehnts. Ausdruck eines Generationenkonflikts, der bereits in den 1950ern gärte und dann im Lauf der 1960er in Wort und Tat aufbrach.
Rock’n’Roll, Beatmusik, Chansons – Musik spielt immer wieder eine zentrale Rolle. Was bedeutet dir Musik als Erzählinstrument in deinen Geschichten?
Svea Lenz: Die Songtitel bzw. die Lyrics dahinter erweitern den Romantext um eine zusätzliche Dimension. Sie stimmen unterschwellig auf ein Kapitel oder eine Szene ein, geben die Emotionen der Protagonist*innen wieder oder lassen etwas erahnen, das im Roman selbst nicht ausgesprochen wird. Musik transportiert ein bestimmtes Lebensgefühl, einen Zeitgeist, und die Songs, die wir heute noch kennen, schlagen eine Brücke in unsere Zeit. Ich mag die Vorstellung, dass beim Lesen jede*r einen individuellen Soundtrack im Ohr hat.
Ich spüre beim Lesen diese tiefe Verbindung von Musik und Emotion. Hast du selbst einen Song, der dich sofort in die Stimmung deines Romans zurückversetzt?
Svea Lenz: „Sag mir, wo die Blumen sind“ bzw. das englischsprachige Original „Where Have All the Flowers Gone“. Eines der bekanntesten Antikriegslieder, dem in den 1960ern u. a. sowohl Marlene Dietrich als auch Joan Baez ihren unverwechselbaren Sound verliehen. In Bezug auf den Roman stecken für mich so viele seiner Themen darin: der Rückblick auf den Zweiten Weltkrieg und die in den 1960ern gerade beginnende Aufarbeitung der NS-Diktatur, Kalter Krieg und Mauerbau und nicht zuletzt die Proteste gegen den Vietnamkrieg. Der 1955 vom Amerikaner Pete Seeger geschriebene Song hat seine Wurzeln übrigens in einem ukrainisch-russischen Volkslied, und damit einen Bezug zu unserer Gegenwart.
Wenn du dir eine Playlist zu „Lebensträume – Ärztin einer neuen Zeit“ zusammenstellen könntest: Welche drei Songs dürften auf keinen Fall fehlen?
Svea Lenz: „We Shall Overcome“ von Joan Baez– Schlüsselsong der US-Bürgerrechtsbewegung in den 1960ern und seitdem ein immer wieder aufgegriffenes Protestlied gegen jede Art von Missständen und Ungerechtigkeit. Heute aktueller denn je.
„Moon River“ von Audrey Hepburn – eines der Lieblingslieder von John F. Kennedy, der jenes Jahrzehnt über seinen Tod hinaus geprägt hat. Und „Frühstück bei Tiffany“ ist bis heute ein Kultfilm, Audrey Hepburn eine Ikone nicht nur der Sixties geblieben.
Und dann „Break On Through (To the Other Side)“ von The Doors – der Sound einer neuen Generation, einer neuen Zeit.
Dein Roman spielt in einer Zeit voller Umbrüche – was glaubst du, können wir heute noch von den Frauen der damaligen Zeit lernen?
Svea Lenz: Dass es so etwas wie naturgegebene gesellschaftliche Rollen und Normen nicht gibt und derartige Stereotype auch keineswegs in Stein gemeißelt sind. Dass es sich lohnt, dagegen aufzubegehren und dabei füreinander einzustehen.
Wenn deine Hauptfigur heute leben würde: Welche Musik würde sie deiner Meinung nach hören?
Svea Lenz: P!nk fände sie toll – nicht nur Sound und Message, sondern auch ihre Persönlichkeit. Grundsätzlich hätte meine Vicky ein Faible für Singer-Songwriter*innen, die aus zeitlosen Einflüssen etwas Eigenes mit modernem Touch erschaffen, wie etwa Hozier, Gigi Perez, Sufjan Stevens, Michael Kiwanuka oder Christine and the Queens.

Ich danke Svea Lenz ganz herzlich für das offene und inspirierende Gespräch. „Lebensträume – Ärztin einer neuen Zeit“ ist mehr als ein historischer Roman – es ist ein musikalischer Coming-of-Age-Roadtrip durch eine Umbruchszeit, die viel mit unserer Gegenwart zu tun hat.
Das Buch ist überall erhältlich, wo es Bücher gibt – online und im stationären Buchhandel.
Meine Empfehlung: Lesen, hören, fühlen.
Fotocredits: Jörg Brochhausen (Portraits), Andreas Seibert-Wussow (Buch)
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